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Über die Freiheit, nicht schön sein zu müssen

  • Luisa Gärtner
  • 1. Sept. 2023
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 15. Apr. 2024


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So auszusehen, dass andere das gut finden. Das nimmt in unserem Leben einen viel zu großen Stellenwert ein, findet die Autorin. Sie merkt erst, als sie auf einem Roadtrip eine Zeit lang aus der Gesellschaft raus ist, wie viel sie tun muss, um „richtig” auszusehen und dass sie dieses Richtig nicht hinterfragt hat. Blöderweise stören sie ihre ungekämmten Haare und ihr Loch im T-Shirt überhaupt nicht. Wer oder was uns die Vorstellung, dass wir unsere Beine rasieren und uns die Haare kämmen müssen, gegeben hat, dass unsere Haut glatt sein soll und wir sicher besser aussehen könnten, ist multikausal, interdependent, vielleicht nicht von uns zu begreifen. Die Frage ist, können wir uns einfach so dagegen entscheiden, uns in irgendeiner Form um unser Aussehen zu kümmern?



Es fällt Dir vielleicht erst auf, wenn Du das erste Mal eine Woche im TARP (ein Zelt ohne Wände) gepennt hast, irgendwo in Slowenien oder Litauen oder sonst wo auf der Welt. Du wachst auf und fühlst Dich frei, müde, verspannt, deine Muskeln brennen ein bisschen. Gestern hast Du zufällig beim Schwimmen kleine Fischchen und die Unterwasserwelt, in der sie leben, entdeckt und bist deshalb stundenlang auf- und abgetaucht, ohne Gefühl für Zeit und das Ende Deiner Kraftressourcen. Du kaufst Thunfisch in der Dose und willst Dich an den Rand einer Mauer auf dem Campingplatz setzen, um endlich Proteine zu bekommen.


Dann kommst Du daran vorbei. Ein Spiegel.

Der erste für eine gefühlte Ewigkeit. Dein Spiegelbild überrascht Dich. Es grinst. Weil es Dir gefällt, schaust Du genauer hin. Das Grinsen ist anders, sitzt höher als sonst – als ob Deine Kiefermuskeln sich nach oben erweitert hätten. Du siehst die Sehnen an deinen Beinen und Du siehst Beinhaare.


Wahrscheinlich haben wir alle in unserem Alltag eine mentale Liste von vielen mentalen Listen. Die Erzählerin dieser kurzen Geschichte hat jedenfalls eine.


Eine Liste, was sie mit ihrem Aussehen machen muss, soll, könnte, was sie routiniert tut. Beine rasieren. BH tragen. Haare waschen. Kämmen. Fingernägel saubermachen, sich in regelmäßigen Abständen fragen, welche Frisur Dir steht, Haare färben oder nicht, und die Liste wird länger. Ohrringe, Sport gegen Cellulite – es geht nicht darum, dass es schlecht ist, sich darum zu kümmern. Es geht in diesem Artikel darum, ob man diese Liste haben muss.


Die Erzählerin dieser Geschichte jedenfalls erkennt in diesem Moment vor dem Campingplatzspiegel, dass sie eigentlich auch ohne das Befolgen ihrer Liste schön ist. Dass sie nicht wusste, wie sie aussieht, wenn sie ihre Haare nicht gekämmt hat, wenn sie ihre Beine nicht rasiert hat, mal ganz zu schweigen von allem anderen, was sie so rasieren muss, wenn ihr Outfit nicht geplant und ausgesucht ist. Die Überraschung besteht darin, dass sie auch nicht wusste, dass sie sich gut fühlen könnte. Vor allem nicht mit einem Loch im T-Shirt. Ist das ein Kaffeefleck?


Du, das bist Du, Du, das erzählende Du, das bin die Autorin, ich. Ich habe mir die Achselhaare nicht rasiert und bin heute zum ersten Mal mit einem Kaffeefleck auf dem T-Shirt ins Büro gegangen (gelogen, aber das erste Mal, seitdem er mir zuhause schon aufgefallen ist).


Warum ist es eigentlich so wichtig, keine Flecken auf seinen Sachen zu haben, frage ich meinen besten Kumpel nach der Arbeit. Wir diskutieren ein bisschen, kommen aber zu keinem Ergebnis. Ich frage mich noch andere Sachen. Warum müssen meine Haare gekämmt sein? Warum darf niemand sehen, dass ich meine Periode habe?

Meine Freunde reagieren gechillt auf diese Frage. Die meisten. Diejenigen, die Ablehnung zeigen, geben zu: Ich brauche das. Ich fühle mich nicht gut, wenn ich mich nicht schminke. Eine sagt „Mein Umfeld achtet auf sein Äußeres, das setzt mich unter Druck. Ich hab‘ das Gefühl, dasselbe tun zu müssen. Ich bekomme Komplimente für mein Äußeres, und diese Dinge hebe ich hervor.”


Ich führe eine kleine innerliche Feldstudie durch und beobachte ein bisschen das Verhalten meines Umfeldes gegenüber dem eigenen Äußeren. Wann erscheint es mir problematisch, sich um sein Aussehen zu kümmern? Wann ist es einfach eine persönliche Handlung, wann ist es cool?


Die erste problematische Situation: Ich habe eine Bekannte mit in den Ballettunterricht genommen. Sie hat offensichtlich Probleme mit ihrem Körper. Das ist ein By-Product unserer Gesellschaft, und ich habe sie nie dafür verurteilt. Aber sie beginnt, die Körper der anderen Teilnehmer*innen zu kommentieren und sich einfach ständig darüber zu äußern. Nach zwei Mal Ballett mit ihr bin ich genervt und wütend, weil auch ich mich jetzt ständig mit dem Aussehen der anderen beschäftigen muss und vor allem mit meinem eigenen. War ich immer froh darüber, dass Aussehen und Körper in meinem Erwachsenenleben im Ballett keine Rolle mehr gespielt haben, stelle ich nun fest, wie schnell diese Blase platzen kann, wenn man ständig Äußerungen über das Äußere ausgesetzt ist.


Dazu zählen manchmal auch positive Äußerungen, stelle ich in einer zweiten problematischen Situation fest. Eine Bekannte beginnt, mich während der Umkleidezeit für Theaterproben ständig für meine Figur zu loben. Und ich wende zunehmend Kraft auf, mich nicht mit meiner Figur zu beschäftigen.


Diese Situationen sind nur Beispiele und gelten erstmal für mich als weiße Frau. Männliche Freunde werden zum Beispiel fokussiert auf ihren Bartwuchs, wenn ihre Freunde diesen ständig kommentieren. Oder auch auf ihren Körper.


Wenn unser Umfeld sich also ständig mit seinem Aussehen beschäftigt, dann geht das gegebenenfalls auf uns über. Das bestätigen mir alle 20 Freund*innen, die ich gefragt habe, ob sie sich mehr mit ihrem Äußeren beschäftigen, wenn ihr nahes Umfeld oder ihre konsumierten Inhalte auf Social Media das tun.

Aber dass man sich mit dem Aussehen beschäftigt, wenn andere darüber reden, kann ja nicht die ganze Antwort auf die Frage sein, warum wir uns dann selbst schön fühlen auf Basis dessen, was andere als schön empfinden, und im Umkehrschluss vor allem nicht Probleme mit dem eigenen Äußeren, Stress und Druck, anders oder besser auszusehen, verursachen, oder? Warum müssen wir uns überhaupt schön fühlen und warum wird von uns erwartet, dass wir das, was als schön gilt, selbst an uns herbeiführen müssen, zu jeder Zeit?


Eine interessante Perspektive auf das Thema finde ich beim französischen Sozialanthropologen Claude Fischler, der eigentlich zum menschlichen Essverhalten forscht. Seine These ist, dass sich Essstörungen wie Magersucht in unserer Gesellschaft entwickelt haben, seit der Mensch vom Korsett befreit ist. Warum sollten Menschen die Befreiung vom Korsett als Startschuss für selbstschädigendes Verhalten sehen und nicht als Befreiung?

Fischler sagt, dass der Mensch in der heutigen Kultur nicht von Schönheitsstereotypen und Erwartungen an sein Aussehen befreit ist, im Gegenteil. Er trägt eine so große eigene Verantwortung für das eigene Aussehen wie noch nie in der Geschichte.

Ich verstehe. Und die meisten, wenn nicht jeder Mensch wächst mit Erwartungen an sein Aussehen auf. Kommentare von Dritten über Dritte können schon Unsicherheiten oder Fragen, ob das eigene Aussehen richtig ist, auslösen. Wahrscheinlich fühle ich mich deshalb gerade so frei. Ich hatte nie direkte Probleme mit meinem Äußeren, aber ich fühle mich, als ob in diesem Moment auf dem Campingplatz ein schwerer Druck von meinen Schultern gefallen ist.


Was mach‘ ich jetzt, wenn ich weiß, dass die Sorge um mein Äußeres nicht in meiner Natur, sondern in unserer Kultur liegt? Dass ich diese Sorge verwerfen und trotzdem in der Gesellschaft, in der ich lebe, blitzschnell wieder von ihr eingeholt werden kann? Wie behalten wir in dieser Gesellschaft das Gefühl, einfach so schön genug zu sein?


Vielleicht ein bisschen öfter im TARP schlafen und Fischchen gucken. Die machen sich auch nach dem Aufstehen keine Gedanken über das Bild im Spiegel.


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Man muss nicht in jeden Spiegel schauen, die Decke ist ggfls. auch schön.




Text und Bilderstrecke: Luisa Gärtner


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